Initiative Tabu Suizid e. V.
Düsseldorf

Erfahrungsberichte

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Hier geben wir Betroffenen aus der Selbsthilfegruppe die Möglichkeit über Ihre Erfahrungen zu berichten.
Informationen von Betroffenen für Betroffene das Umfeld zum Thema Suizid sensibilisieren Ausdruck von Trauer zu fördern
Depression den Krankheitsweg und Suizid aus Sicht der Betroffenen Betroffene die Hilfe/Unterstützung von Gleichbetroffenen suchen, z.B. bei Waisenrentenangelegenheiten, Rechtsfragen u.ä.


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Mein Papa


Es ist Mittwoch und ich bin eben von der Gruppe nach Hause gekommen. Die Gruppe für Hinterbliebene nach einem Suizid besuche ich nun schon seit drei Jahren mehr oder weniger regelmäßig. Jedes Mal ist sie anders, jedes Mal gibt es andere Themen, oft sind Neu-Betroffene dabei, manchmal nur bekannte Gesichter, aber jedes Mal hänge ich hinterher meinen Gedanken nach. Denke an früher, an die Zeit „davor“, als scheinbar noch alles in „normalen“ Bahnen lief. An die Zeit, in der mein Papa noch lebte. Heute fielen die Worte wie Wut, Traurigkeit, Verständnis, Unverständnis, Mitleid, Vergebung, unverantwortlich, feige, Krankheit und viele mehr. Alle davon skizzieren unsere Phasen der Trauer. Ich für meinen Teil akzeptiere die Krankheit meines Vaters nun und habe ihm verziehen, so schwer wie es mir auch gefallen ist in dieser Zeit, den letzten drei Jahren, die mich oft zum Weinen brachten und die mir zeigten, dass das Leben eben nicht irgendwelchen Gesetzen folgt und es auch nicht immer ein Happy-End gibt.


An diesem Abend waren wir zu Elft: Mütter, Väter, Freunde, Lebensgefährten, Geschwister, Kinder verschiedenen Alters. So unterschiedlich und doch so gleich. Das Erlebte ähnelt sich häufig, manchmal nicht. Es fallen Worte wie „plötzlich und unerwartet“ oder „geahnt und gefürchtet“. Ich hatte erahnt und befürchtet, aber dennoch nicht damit gerechnet, denn ich dachte, dass er uns nie im Stich lassen würde, immer für uns da sein würde. So wie man sich das eben von seinem erst 50 jährigen Papa wünscht.


Die Sätze wie „ich kann nicht mehr“, „ich weiß nicht mehr wofür“, „ich sehe keinen Sinn mehr“ werden dann verbannt, abgestempelt als „nur Dahingesagt“, bleiben jedoch dunkle Schleier im Hinterkopf und führen dann nach dem Suizid zu schlaflosen Nächten, den nagenden Schuldgefühlen und dem Gefühl, versagt zu haben, nicht alles getan zu haben, um das Unheil abzuwenden.


Das ist ein Thema, das immer wieder besprochen wird. SCHULDGEFÜHLE 

…………… Was für einen Teil trage ich selber dazu bei, dass der Andere gegangen ist? Was hätte ich anders machen oder sagen sollen?


Nach drei Jahren weiß ich, dass das Fragen sind, die sich jeder stellt und auf die es keine Antwort gibt. Denn wir können die Uhr nicht zurückdrehen und auch wenn, würde das etwas ändern? Ich weiß es nicht. Wenn jemand an einem Tumorleiden stirbt oder durch einen Unfall zu Tode kommt werden diese Fragen nur selten gestellt. Der Schuldige ist schnell gefunden.


Mein „Schuldiger“ hat auch einen Namen. Er nennt sich Depression, hat meinen Vater rückblickend schon Jahre gequält, ihm alle Freude genommen, die Fähigkeit zu fühlen, für Empathie, die Lust am Leben. Sogar die Nachricht, dass das erste Enkelkind unterwegs ist hat ihn nicht mit freudigen Erwartungen erfüllt. Meine Hochzeit zwei Wochen zuvor hat er beinahe wie in Trance verbracht. Es tat weh zu sehen, wie er leidet, aber auch, dass er sich nicht richtig mit mir freuen konnte. Aber auch das habe ich ihm mittlerweile verziehen.


Einige berichteten heute, dass es mehrere Versuche gab bis zur Endgültigkeit, bei anderen ist es unbekannt, manche denken, der Erste sei schon „geglückt“.
Viele waren zuvor schon in Behandlung, viele nicht, wollten nicht, konnten nicht, hatten keinen Antrieb, hatten Angst sich der Wahrheit, der Öffentlichkeit zu stellen, litten heimlich, unwissentlich.
Mein Papa hatte sich von Jahr zu Jahr mehr verändert, ging nur noch selten raus, er verkroch sich. Die Arbeit quälte ihn, und er schlief schlecht. Dennoch wollte er keine Schwäche zugeben, nicht zum Arzt gehen.


Auf unser Anraten nahm er einmal eine Kapsel Johanniskraut, doch nur um dann auch darauf wieder zu verzichten. Einmal verschwand er für etwa drei Stunden und erzählte meiner Mutter, er habe auf einer Brücke gestanden. Sie war geschockt und paralysiert, wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Er ließ nicht mit sich reden, bagatellisierte das Geschehene und zog sich nur noch weiter zurück.


Über die gewählten Methoden wird oft nur am Rande berichtet, scheinen für viele sehr verwirrend zu sein. Wie kann man sich nur selber erhängen, herunterstürzen, erschießen, davorwerfen, Tabletten schlucken…………wie verzweifelt muss ein solcher Mensch sein?
Auch der Ort wirft Fragen auf, die sich oft nicht beantworten lassen.


Mein Papa erhängte sich an einem Montag früh morgens im eigenen Keller und wurde von meiner Schwester und meiner Mutter gefunden. Der Keller ist immer sein Bereich gewesen, wo wir Anderen uns nur manchmal verirrten.
Dieser Anblick wird die Beiden ihr Leben lang verfolgen, ich selber habe ihn zuletzt am Boden liegend gesehen und mich dann verabschieden können. Ich bin froh, dass ich das getan und damals diese Kraft aufgebracht habe, denn ich habe ihn das erste Mal seit langem entspannt gesehen.
Nach einigen  jetzt sitze ich hier vor dem PC, und schreibe das erste Mal über den Suizid meines Papas, der früher immer für mich da war und mir so sehr fehlt wie kein Anderer.


Vor lauter Tränen kann ich die Tastatur kaum noch sehen. Meine mittlerweile zwei Söhne werden ihren Opa niemals kennen lernen, aber sie werden Geschichten hören.


Darüber wie er war und wie er mich geprägt hat.
Die Gruppe gibt einem die wichtige Gelegenheit trotz Alltag in den zwei Stunden inne zu halten, nachzudenken, zu reden oder zu schweigen. So wie man sich eben gerade an diesem Tag fühlt. Für mich hat sie in den Jahren oft als Ventil fungiert. Und sie zeigt mir immer wieder, dass ich nicht alleine bin, alleine  mit meiner Wut, der Angst, der Traurigkeit, der Verzweiflung, der Ohnmacht und der Trauer.



Erfahrungsbericht Mein Papa - 8 Jahre und 3 Monate später


8 Jahre und bald drei Monate
Du hast uns verlassen ohne zu gehen,
bist gegangen ohne dich umzudrehen.
So fühlte es sich an vor acht Jahren und bald drei Monaten. Auf einmal und plötzlich war meine Mutter eine Witwe, meine Schwester und ich Halbwaisen. Und wir fühlten uns verlassen, verraten, verletzt.


Dabei hattest du in erster Linie dich selber verlassen, Jahre der Depressionen hinter dir, das Gefühl der Kraftlosigkeit, der Hilflosigkeit! der Gleichgültigkeit, der Gefühlslosigkeit haben dein Leben bestimmt. Machtlos standen wir neben dir, vor dir, wollten helfen und konnten es doch nicht.
Mit den Jahren habe ich gelernt, dass man sich nur selber richtig helfen kann, da helfen keine gut gemeinten Ratschläge, kein noch so guter Hinweis. Die Brücken, die wir dir versucht haben zu bauen hast du nicht beschritten. Du hast einen anderen Weg gewählt. Raus aus diesem Wahnsinn, raus aus dieser Welt. Jetzt weiß ich, dass du nicht vor uns geflüchtet bist-denn auch das war einer dieser gnadenlos aufkommenden destruktiven Gedanken. Das hättest du nicht getan, denn du hast uns geliebt. Vielleicht so sehr, dass du uns keine Last mehr sein wolltest.


Aber fragen können wir nicht mehr, die Antworten müssen wir uns selber geben.


Geholfen hat mir in all den Jahren, den acht Jahren und bald drei Monaten, das Zusammentreffen mit Menschen, die das Gleiche durchlebten, die genauso fassungslos vor einem Verlust standen, die sich die gleichen Fragen stellten, nach Antworten schrien, die ähnlich empfanden und Trost suchten.


Den habe ich gefunden, jedes Mal neu, trotz aller schrecklichen Erfahrungen der anderen "Selbsthelfer". Manche kamen, um zu bleiben. Manche sah man nur ein einziges Mal. Jeder verarbeitet auf seine Weise, es gibt da keine Richtwerte oder Vorgaben wie man zu trauern hat. Das Gefühl, nicht allein zu sein, meine Gedanken teilen zu können und dabei nicht hinterfragt zu werden machen , diese Treffen zu etwas Wertvollem für mich. Wir begegnen uns und den Verstorbenen mit Respekt, akzeptieren jede Phase der Trauer und finden immer wieder Parallelen.


Neben meinem aktiven, völlig durchstrukturierten und geplanten Alltag gibt mir die Runde die Möglichkeit und den Raum, die Erinnerungen an meinen Papi wieder aufleben zu lassen. Ich möchte nicht verdrängen, möchte die Gefühle nicht wegsperren, denn er hat mir gezeigt, was passieren kann, wenn man sich selber nicht mehr lieben kann.
Mein Leben ist meine Verantwortung und ich werde diese-auch für meine Kinder- immer tragen. Und ich wünschte, das hätte mein Papi auch getan. Ich wünschte, er hätte die ersten Anzeichen ernst genommen. Ich wünschte, er wäre zum Arzt gegangen, hätte sich irgendjemandem anvertraut, noch Hoffnung schöpfen können. Ich wünschte, er könnte seinen drei Enkelsöhnen beim Fußballspielen und Toben zugucken.
Und das wünsche ich mir immer noch auch nach acht Jahren und bald drei Monaten.




Nach vielen  Jahren

Es kommen  auch Anfragen von Betroffenen wo der Suizid schon viele Jahre her ist und dann doch plötzlich wieder präsent.
Die meisten Betroffenen sind der Annahme, dass  nach so vielen Jahren doch alles gut sein müsste und man doch jetzt nicht mehr in eine Gruppe gehen könnte.
Meist erzähle ich ihnen dann von mir, wie ich nach über 34 Jahren nach weiteren  einschneidenden Ereignissen und einem Zusammenbruch erstmals öffentlich über den Suizid meines Vaters sprechen konnte.


Wie ich  ihm einen über 30 Seiten langen Brief schrieb. Ein Brief an einen Toten was mir zu Anfangs sehr schwer fiel und wie ich dann fast nicht mehr aufhören konnte.


Zeilen voller Schuld, Scham, Verzweiflung, Ohnmacht, Wut, Hoffnungs-losigkeit und Angst ja großer Angst.
Ich schrieb ihm was mich bewegte und seit seinem Tod passiert ist. Wie sehr ich ihn noch gebraucht hätte, wie sehr ich in vermisst habe,  über die Hochzeit seiner Kinder, die Geburt seiner Enkel und vieles mehr.


Nun bin ich schon ein vielfaches älter  als er geworden ist, er ging mit 44, ich war 16 als ich den Schuss hörte der mein Leben von einer Sekunde auf die andere so veränderte.


44 kein Alter er war viel zu jung, doch es war seine Entscheidung,  obwohl wenn ich heute darüber nachdenke war er überhaupt noch in der Lage zu entscheiden?.  Er war in der letzten Stunde seines Lebens sehr eigenartig.


An einem Novemberabend nahm ich diesen Brief und ging gemeinsam mit meinem Therapeuten auf den Friedhof an die Stelle wo sich einmal sein Grab befand und nahm Abschied.  Den Brief habe ich an Ort und Stelle verbrannt er wollte erst gar nicht brennen so viel Trauer und Schmerz enthielt er wohl.
An diesem Abend versöhnte ich mich mit meinem Vater und hatte das Gefühl ich nehme das junge Mädchen das seit seiner  Beerdigung an dieser Stelle ausharrte nach über 30 Jahren mit nach Hause und kümmerte mich um sie.


In der von mir gegründeten Selbsthilfegruppe habe ich gemeinsam mit Gleichbetroffenen  gelernt  den Suizid zu akzeptieren,  denn begreifen werde ich es nie,  doch mit der Akzeptanz kann ich leben.


Einige Betroffene konnte ich so ermutigen auch noch nach vielen Jahren den Suizid unter Gleichbetroffenen als nicht abwendbar zu akzeptieren und lernen damit zu leben.


Man sagt zwar Zeit heilt alle Wunden doch einen Menschen durch Suizid zu verlieren ist eine außerordentlich schmerzhafte Erfahrung, die das Leben von uns Betroffenen tief greifend verändern kann. Kaum jemand, der nicht davon betroffen ist, kann dies nachvollziehen.


Es bleiben Narben – tiefe seelische Narben - die genau wie körperliche Narben ab und an mal mehr mal weniger schmerzen.
Wenn wir gemeinsam lernen mit diesem  Schmerz umzugehen, den Suizid eines geliebten Menschen zu akzeptieren  haben wir einen großen Schritt getan.
Es wird zwar nie wieder so werden wie es einmal war, doch es kann wieder ein gutes Leben werden.

Sept. 2015



Erfahrungsbericht eines Vaters:
"Selbsthilfegruppe"


Nein, ich hatte keine Vorstellung davon, was es bedeutet, ein Kind zu verlieren. Die Welt wie es sie einmal gab existierte plötzlich nicht mehr, im Grunde genommen brach alles zusammen, es gab keinen Halt mehr, nur noch Verzweiflung. In dieser Phase waren wir dankbar für jeden noch so kleinen Strohhalm, der uns in irgendeiner Weise Hoffnung geben konnte. Die Adresse der Selbsthilfegruppe war einer dieser Strohhalme. Ohne besondere Vorstellungen, aber mit der verzweifelten Hoffnung auf eine Lösung gingen wir kurz nach dem Schicksalsschlag dort hin.


Am Anfang war es eine von mehreren Aktivitäten um den Schmerz zu verarbeiten, doch schon bald stellte sich heraus, das die anderen Aktivitäten sich abnutzen bzw. nicht das Richtige für uns waren. Die Gespräche mit Bekannten konnte nicht auf "Augenhöhe" geführt werden, etwas was uns die Selbsthilfegruppe ermöglichte: Gespräche mit Betroffenen, die den Schmerz selbst empfanden. Hier waren keine Erklärungen notwendig, hier gab es keine noch zu gut gemeinten, aber für uns nicht umsetzbaren Ratschläge, die einem zeigten, dass der Anderen trotz allen guten Willens niemals verstehen würde.


Entweder kam zwangsläufig bei den Bekannten irgendwann der Punkt, dass sie sich wieder ihrem eigenen Leben zuwenden wollten, oder wir selber wollten sie nicht weiter mit unseren Problemen belasten. Wir wollten nicht bei jedem Treffen ein Gefühl der Trauer verbreiten, waren aber auch nicht in der Lage wie gewohnt fröhlich weiterzumachen. Aus diesem Grunde wurden die Treffen der Selbsthilfegruppe immer wichtiger. Hier durften, nein wollten alle Teilnehmer immer und immer wieder über das Geschehene reden. Die regelmäßigen Termine ermöglichten es uns an den anderen Tagen ein wenig Normalität einkehren zu lassen, wir wussten ja um die nächste Möglichkeit über den Schmerz zu reden.


Am Anfang war die Ohnmacht, dass uns das passieren musste enorm groß. Wir hatten das Gefühl die ganze Welt wäre glücklich, nur wir wären davon betroffen und ausgeschlossen. Die Gruppe zeigte uns, das auch Andere von solchen Schicksalsschlägen betroffen sind und wir nicht alleine sind. Den Schmerz der Anderen zu spüren hat von dem eigenen abgelenkt und in diesem Moment abgeschwächt.


Nach nunmehr 1 1/2 Jahren der regelmäßigen Teilnahme ist der Besuch ein fester Bestandteil unseres Lebens geworden. Ein Bestandteil, der es uns ermöglicht, das schreckliche Ereignis in unser Leben zu integrieren. Zusammen mit den regelmäßigen Besuchen am Grab sind es die Zeiten, in denen wir uns erinnern können, dürfen und wollen. Durch sie reduziert sich die Angst vor dem Vergessen. Nicht zuletzt dadurch ist es uns wiederum möglich ist in der übrigen Zeit zu versuchen in ein halbwegs normales Leben zurückzufinden.


Die Berichte der Betroffenen zeigen uns, dass wir alle im Wesentlichen die gleichen Phasen durchlaufen. Je nach Art des Schicksalsschlag und der Persönlichkeit sind sie bei den Einzelnen mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt. Es hat uns Hoffnung gegeben, zu sehen, wie Betroffene nach mehreren Jahren oder auch Monaten bereits anders mit dem Schicksalsschlag umgehen konnten. Wenn auch das Gefühl nicht in der Lage war Hoffnung für die Zukunft zu geben, so konnte dies zumindest der Verstand. Auch dies war eine wesentliche Erkenntnis, das der Verstand zwar sehr wohl wusste was zu tun ist, die Gefühlswelt davon aber abgekoppelt ist und ihren eigenen langen Weg der Erholung gehen muss, um sich zu erholen. Den Glauben daran hat mir kein Psychotherapeut, Psychiater oder Bekannter geben können, sondern nur die Erfahrungen der Betroffenen in der Selbsthilfegruppe und die vielen kleinen Fortschritte die wir selber gemacht haben.”

Sept. 2015




Wut als positive, befreiende Emotion
( aus dem Erleben eines Psychotherapeuten)


Was kann lindern, wenn nichts Tröstliches zu finden ist? Was tun mit diesem Schmerz und dieser Ohnmacht, dieser Verlassenheit des vom Suizid eines geliebten Menschens betroffenen Hinterbliebenen ??


Es tut gut, sich in allererster Linie selbst liebevoll zu begegnen und wieder zu entdecken, wenn alles einzustürzen droht.
Und dabei wird die Wut unterschätzt, auch als positive, befreiende Emotion.
Und da ist oft die Schuld....
Was ist das denn für eine Schuld?
Schuld am Suizid?
Schuld, versagt zu haben, als Vater, Mutter, als Partnerin, Partner? Nicht zur rechten Zeit am rechten Ort?
Schuld, einen Sohn oder Tochter gezeugt zu haben, die das Leben nicht mehr leben wollten ?
Schuld, ihn oder sie unvollständig geliebt zu haben?
Schuld, dem Menschen nicht vertraut, ihm nichts zugetraut zu haben im Leben?
Oder Schuld dieses toten Menschens?
Muss ein Mann nicht tun im Leben, was ein Mann tun muss? Gehören Söhne auch zu selbstbestimmten Männern?
Was für eine Schuld und was genau macht die in ihm?
Und dann fühle ich da auch Wut, Wut auf Menschen, die die Folgen ihres Handelns für die" Übriggebliebenen" übersehen. Wut, dass Menschen die Notsignale anderer nicht verstehen. Wut, da zu stehen mit dem Gefühl, nichts ändern zu können, ohnmächtige, schreiende Wut, die mal so richtig in diese "Beziehungskacke" reinschlagen und alles rausbrüllen will.


Bis diese Wut als Kraft entladen ist, der Kopf vorne über hängt, die Atmung schnauft und den Weg tief in den Bauch hinein sucht und die Arme nicht mehr gehoben und die Hände nicht mehr zu Fäusten geballt werden können. Keine Kraft mehr zum Schlag auszuholen.


Und dann fühle ich sie, diese Trauer, diese untröstliche, unendlich tiefe Traurigkeit. Kein Gedanke an den Menschen, den Vater, die Mutter, den Partner, das Kind, ist ohne ein Gefühl von Trauer. Und da steht sie dick und fett und groß, und schwer ist das Herz. Und könnt ich sie so fühlen, wenn ich nicht unendlich lieben könnte?
Und da würde ich diese Hinterbliebenen abholen wollen, in ihrer unendlichen Ressource Liebe, weil sie diesen Toten geliebt haben. Mit jeder Faser ihrer Seele, mit Haut und Haar. Und dazu die ganzen Bilder von Eltern und Kind, Mann und Frau, und Liebe, die ganzen kleinen Gesten, Worte und Begegnungen.


Wenn etwas ist wie es ist und es ist nicht wieder " heile" zu machen, gibt es keine Superlösung mehr. Dann taugt vielleicht auch die Zweit- und Drittlösung gefühlt unvollständig. Und doch wird da eine sein, die angefüllt werden darf mit all den vielen guten Gefühlen, den liebevollen, aufrichtigen Bildern und Gesten. In den viele gelebten Jahren wird alles abphotografiert, was liebevoll, richtig und gut war, dass die Augen das wieder sehen können. Und die Photos kommen in den Safe.
Und all die Tränen dürfen dabei geweint werden, immer mit Blick in den Safe. Und den Schlüssel hält der Hinterbliebene in der Hand. Sein Sicherheitszentrum.
Das ist in der Vorstellung bis in Trance sehr ausbaufähig, diese zentrale Sicherheit.  Der Hinterbliebene kontrolliert. Es ist sein Safe.
Ich gäbe diesen Hinterbliebenen einen Boxsack und einen Safe.


Juni 2015




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